Ein ADHS-Coach erzählt



 

„Frau Altemöller, sagen Sie, sind Sie auch von ADHS betroffen?“

Diese Frage bekomme ich immer wieder gestellt in meinen Coaching-Prozessen, in Vorgesprächen, im Gruppencoaching und wenn ich mit Paaren arbeite. Manchmal direkt und manchmal schwingt sie ein wenig mit als unausgesprochene Frage. Offensichtlich leben Betroffene in dem Glauben oder der Hoffnung, sich besser verstanden zu fühlen (von mir als ADHS-Coach), wenn Ihr Gegenüber ADHS aus eigenem Erleben kennt.

Wie ist das bei mir? Das Ergebnis vorweg. Ja, auch ich bin eine der vielen spätdiagnostizierten ADHS-Frauen. DIAGNOSE im Jahr 2002. Das war mit 32 Jahren. Somit lebe ich seit mittlerweile mehr als 20 Jahren mit dem Wissen. Wie bei so vielen Frauen kam die Diagnose erst spät. Und mein Leben ist wie ein Aktienkurs verlaufen. Mit zahlreichen Höhen und auch Tiefen. Davon erzähle ich hier in diesem Blog. Und ja, ADHS ist immer da. Aber nicht immer gleich groß und ich habe einen wesentlichen Einfluss darauf durch meine eigene Lebensgestaltung.

Warum ich jetzt erstmals über meine eigene ADHS-Diagnose schreibe?

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich jetzt das erste Mal über meine eigene Diagnose schreibe? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Aber einer der wesentlichen Gründe ist, dass Authentizität einer meiner Kernwerte im Leben ist. Das ist mir zunehmend schwerer gefallen, das umzusetzen im Kontakt mit meinen Klienten und auch in der Beziehungsgestaltung auf Social-Media, ohne offen zu sagen, dass ich das Leben mit ADHS aus eigener Erfahrung kenne.

Ohne mein Outing bleibe ich immer die, die als Expertin über ADHS als Coach und mit viel Wissen spricht. Es nimmt mir die Möglichkeit, dass ich auch offenbare, dass ich zahlreiche Erfahrungen teile. Ich kenne vieles, was mir Klienten erzählen aus eigener Erfahrung, aus eigenem Erleben und Fühlen. Und mein eigener Weg damit ist ein wichtiger Teil von mir, der mich prägt, mal mehr, mal weniger.

Indem ich mich vor allem als Mensch zeige, bin ich glaubhafter, kann Betroffenen Mut machen. Aber insbesondere möchte ich auch zeigen, dass ADHS zwar immer da ist, aber es zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten gibt, das Leben proaktiv zu führen.

Leben AUSBALANCIEREN mit meiner ADHS-DIAGNOSE

Leben AUSBALANCIEREN mit meiner ADHS-DIAGNOSE

Ich weiß seit über 20 Jahren von der Diagnose, ohne über sie zu sprechen, nur mit wenigen vertrauten Menschen. Das ist, wie es heute so schön heißt, Masking. Auch weil für mich mit der ADHS-Diagnose viel Scham verbunden war. Die Angst, dass Menschen plötzlich meine Defizite beleuchten, mich anders sehen und bewerten, dass ich abgestempelt, stigmatisiert werde. Auch weil viele Menschen noch einen unvollständigen und einseitigen, oftmals defizitorientierten Blick von ADHS und ADHS im Erwachsenenalter haben.

Meine eigene ADHS zu managen bedeutet nicht nur passende Bewältigungsstrategien zu finden. Vielmehr ist es auch, sich Themen wie Scham, Selbstwert und vor allem Selbstakzeptanz zu stellen. Daher bin ich heute so weit, mich mit meiner Diagnose zu zeigen, mit allem Gelingenden in meinem Leben, und auch dem Scheitern und den Unzulänglichkeiten. Zu mir zu stehen, in meiner Einzigartigkeit.

Aber fangen wir einmal von vorn an.

ADHS wurde in meiner Kindheit übersehen

Ich frage mich häufig, warum ADHS in meiner Kindheit übersehen wurde und gleichzeitig wundert es mich nicht. Ich bin eine der zahlreichen Mädchen/Frauen, die ausreichend gut durch die Schule gekommen sind. Natürlich geben bei genauer Betrachtung auch meine Schulzeugnisse Aufschluss über ADHS. Das habe ich aber erst viele Jahre später verstanden.

Ich war in der Schule gut. Es war für mich aus einem bildungsfernen Elternhaus bereits ein Erfolg, dass ich als eines von wenigen Kindern auf das Gymnasium wechseln durfte (damals in den 80er-Jahren war das noch etwas Besonderes).

Wenn ich heute in meine Grundschulzeugnisse schaue, die auch bei der Diagnostik einbezogen wurden, kann man die üblichen Kommentare nicht übersehen.

Der Blick in meine Zeugnisse verrät es.

„Gelegentlich sollte sie sich bemühen, ihr Temperament zu zügeln.

…, dabei machte sich jedoch öfters ein Mangel an Konzentration bemerkbar.

Christiane, versuche etwas ruhiger zu arbeiten…

Bei den schriftlichen Arbeiten könnte sie mehr Sorgfalt verwenden.“

Damals wusste das niemand zu deuten. Wofür auch. Es gab nach außen keinen Handlungsbedarf und keinen Leidensdruck. Die Noten waren gut, der Übergang in die weiterführende Schule gesichert. Meine Eltern waren zufrieden mit dem, was ich geschafft hatte. Ich hatte zwar keine Unterstützung, aber auch keinen Druck. Ob ich möglicherweise unter meinem Potenzial blieb, wurde nicht hinterfragt. So wurde ADHS wie bei vielen Mädchen und Frauen bei mir übersehen, da ich trotz der typischen Symptome Hyperaktivität, Impulsivität und Konzentrationsschwierigkeiten von ADHS bei Kindern und Jugendlichen ausreichend gut in der Schule abschneiden konnte.

Und die kleine Christiane war einfach die Quirlige, die Temperamentvolle, Sportliche, die immer in Bewegung war. Fangen auf dem Schulhof, Gummitwist in der Pause, mit dem Stuhl wippen…

ADHS-Kindheit in den 80er-Jahren

Eine der Gründe, warum ADHS in meiner Kindheit nicht erkannt wurde, ist sicherlich auch die Zeit, in der ich groß geworden bin. Heute, wenn ich diesen Blog-Artikel schreibe, bin ich fast 53 Jahre. D. h. ich habe meine Schulzeit und Kindheit in den 80er-Jahren verbracht. Da war ADHS noch kein großes Thema, schon gar nicht bei Mädchen.

Christiane Altemöller

Unbeschwerte Kindheit in den 80er Jahren ohne das Wissen um ADHS

Ich erkläre es mir zudem dadurch, dass ich sehr „artgerecht“ groß geworden bin. Was ich damit meine? Ich bin in einem wunderschönen kleinen Dorf mit damals 250 Einwohnern auf dem Land in Unterfranken groß geworden. Natur, Wald, Heuböden, Rollschuhfahren, Gummitwist, Tischtennis spielen und Fahrradfahren. Ich war immer in Bewegung und draußen, meist mit meinem geliebten Bruder oder Freundinnen. Durch die natürliche Umgebung und die Bewegungsmöglichkeiten konnte ich meine Aktivierung auch auf natürliche Weise unterstützen.

Und es gab noch keine digitalen Aufmerksamkeitsdiebe und Ablenkungen: Smartphone, Internet, Social Media. Daher wurden meine Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit nicht negativ beeinflusst.

Zudem hat mein Leben schon frühzeitig eine bedeutsame Richtung eingeschlagen, da mit 10 Jahren mein Talent für Leichtathletik entdeckt wurde.

Meine Liebe zum Siebenkampf und mein Weg als erfolgreiche Leistungssportlerin

Im Alter von 10 Jahren wurde mein Talent für Leichtathletik bei einem Schulwettkampf eher zufällig entdeckt. Ich habe dann mit Leichtathletik begonnen und seitdem habe ich meine Leidenschaft für Bewegung auf dem Sportplatz ausleben dürfen. Was klein begann, wurde später eine große Leidenschaft. Der Leistungssport hat, wie bei so vielen ADHS-lern mein Leben getragen und geprägt. So wie andere erfolgreiche Sportler, die ADHS auch als Ressource genutzt haben (vgl., Michael Pehls, Michael Jordan). Hier finden mich auf Wikipedia: Christiane Scharf – Wikipedia.

Christiane Scharf

Meine große Leidenschaft: Siebenkampf – Vielfalt im Blick

So habe ich neben der Schule sehr viel Zeit und Energie in den Sport investiert. Das hat meine Kindheit, Jugend und mein junges Erwachsenenleben geprägt und getragen, bis ich mit Anfang 20 wegen einer unglücklichen Verletzungsserie aufhören musste. Dazu später mehr.

 

Mein Schul- und Berufsweg, ohne von meiner ADHS-Diagnose zu wissen

Durch meinen Leistungssport war Schule für mich immer Nebensache. Ich habe Abitur gemacht, das lief mehr oder weniger nebenbei. Ob beim Abitur mehr drin gewesen wäre, habe ich mich zu dem Zeitpunkt nicht gefragt. Meine Energie und mein Fokus lagen auf dem Siebenkampf, da ich, seit ich 16 Jahre alt war, bereits auf internationalem Niveau an Wettkämpfen teilgenommen und oft 20 Stunden die Woche mit Training verbracht habe. Heute weiß ich, dass ich hierdurch kontinuierlich in meinem Hyperfokus war und ich habe auch verstanden, dass der Sport einfach auf eine natürliche Weise die Unteraktivierung, die mit ADHS verbunden ist, wunderbar ausgeglichen hat.

Meine Berufswahl habe ich nicht wirklich daran ausgerichtet, was meinen Interessen und Begabungen entspricht. Das hätte ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht beantworten können. Ich bin in meinem Kernberuf Diplom-Verwaltungswirtin und habe mich für ein dreijähriges duales Fachhochschulstudium entschieden und so gut beruflich Fuß gefasst. Das hat sich im Nachhinein (nicht nur in Bezug auf ADHS) als unterstützend herausgestellt, da hierdurch eine Fremdstruktur von außen gegeben war.

Das Ende des Leistungssportes – eine dunkle Zeit in meinem Leben

Der fünfte Platz bei der Leichtathletik-Europameisterschaft 1990 in Split mit 20 Jahren. Es war wie im Traum. Große Träume und Vorfreude auf die Olympischen Spiele 1992 in Barcelona. Aber das Leben schreibt seine eigenen Geschichten.

Eine unglückliche Serie von Verletzungen hat mich dazu gezwungen, meine sportliche Karriere viel zu früh zu beenden. Das war für mich eine dunkle Zeit in meinem Leben. Das, was mir immer Halt gegeben hat, wofür ich gebrannt habe, wofür ich so viel Zeit investiert habe, ist weggefallen. Damit auch die Richtung in meinem Leben und ich bin in ein Loch gefallen. Fragen über Identität, Bedürfnisse, Werte, Ziele, Orientierung musste ich neu finden. Wer bin ich ohne Sport?

Es war ein tiefer Einschnitt in meinem Leben, da meine wichtigste Kompensationsquelle für ADHS weggefallen ist. Mein Leistungssport hat mich auf eine so natürliche Art und Weise in eine Aktivierung gebracht.

Was ich hier jetzt in wenigen Zeilen schreibe, war eine traurige, dunkle Zeit in meinem Leben. Aber ohne diese Zeit wäre ich heute nicht der Mensch und ADHS-Coach, der ich bin. Sie verleiht mir Tiefe, Empathie und Einfühlungsvermögen. Sie gibt mir auch die Zuversicht und Ergebnisoffenheit, dass es nicht nur einen Weg im Leben gibt, um glücklich zu sein und öffnet den Blick auf alternative Lebenswege und unentdeckte Fähigkeiten.

Obwohl ich mit 19 Jahren in einem Beruf gelandet bin, der vordergründig gar nicht zu meinem Menschsein und mir passt, habe ich unschätzbar viel daraus gelernt. Denn ich hatte das Glück, dass ich als Diplom-Verwaltungswirtin in einer großen modernen Non-Profit-Organisation arbeite, die eine große Bandbreite an unterschiedlichen Aufgaben hat. Durch meine dortigen Erfahrungen in vielfältigen Verwendungen im Bereich Human-Ressource habe ich meine Liebe zur Psychologie und Pädagogik entdeckt. Ich habe angefangen, berufsbegleitend an der Fernuniversität Hagen Erziehungswissenschaften und Soziale Verhaltenswissenschaften zu studieren und mit einem Bachelor abgeschlossen. So konnte ich diese wertvollen Zusatzqualifikationen im psychologischen und pädagogischen Bereich immer wieder einbringen in meinen beruflichen Alltag.

Und so treiben mich schon immer die Fragen an: Warum sind Menschen so einzigartig und individuell, wie sie sind? Warum können Menschen Dinge unterschiedlich gut? Warum lieben Menschen unterschiedliche Dinge? Wie entdecke ich Begabungen? Warum passt ein Arbeitsplatz für einige Menschen so gut und beim nächste scheitert man? Wie kann man neue Kompetenzen erwerben und erweitern?

Das prägt mich bis heute als ADHS-Coach mit einem tiefen Verständnis für die Komplexität des menschlichen Seins.

Meine ADHS-Diagnose mit 32 Jahren

ADHS und mein berufsbegleitendes Zweit-Studium

Doch trotz aller Begeisterung für mein Studium hat es mich sehr an meine Grenzen gebracht.

Berufsbegleitendes Studium, eine Unmenge an Lernstoff, hohe Anforderungen an Selbstorganisation. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt, warum tue ich mir so schwer, den Lernstoff zu behalten, warum tue ich mich mit dem Dranbleiben, der Selbstorganisation so schwer? Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen: Eigentlich wollte ich lernen und habe mich dann mit einer Frauenzeitschrift abgelenkt. Und da fand ich einen Artikel über ADHS im Erwachsenenalter bei Frauen. Was heute so alltäglich erscheint, war damals etwas Rares und sehr Besonderes und für mich lebensverändernd Kostbares. (Wir befinden uns gerade im Jahr 2002).

In dem Artikel waren die ADHS-Symptome im Erwachsenenalter beschrieben. Nur oberflächlich, aber irgendwie ausreichend, sodass ich dachte: „Das bin ich, die dort beschrieben wird.“ Dieser Spur bin ich dann nachgegangen.

Von da an habe ich alles verschlungen, was man über die Diagnose finden konnte. „Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit aufmerksam zu sein“ (Hallowell/Ratey) war eines meiner ersten Bücher. Zu dieser Zeit herrschte noch der defizitorientierte Blick vor. Insbesondere gab es jedoch damals noch deutlich weniger Literatur und Informationen online als heute.

Ich habe mich zügig um eine Diagnose gekümmert. Und irgendwie war es keine Überraschung, dass meine Diagnostik mit 32 Jahren positiv ausfiel.

Meine ADHS-Diagnose mit 32 Jahren als Start für die Reise des Verständnisses

Lebensweg Christiane Altemöller mit ADHS-Diagnose

Christiane Altemöller: Mein Lebensweg mit ADHS Spätdiagnose

Warum die Diagnose für mich so wichtig war? Es war für mich der Startschuss, meine ADHS-Symptomatik und mich Schritt für Schritt zu verstehen, auch meine Vergangenheit. Das war stets mit sehr vielen unterschiedlichen Gefühlen verbunden. Zwischen Trauer, Wut und Erleichterung war alles dabei. Und wie es so mit Trauerarbeit ist, hat sich all das immer wieder gemischt in Zyklen. So ist das bis heute.

Zu begreifen, dass mein neurodivergentes Gehirn seinen eigenen Regeln folgt, hat mit Abstand dann primär Erleichterung mit sich gebracht und mein Selbstmitgefühl deutlich gestärkt. Ich beschreibe das heute gerne so, dass mein Gehirn mit einer anderen Software ausgestattet ist. Diese zu verstehen, ist ein kontinuierlicher Prozess, bis heute.  Dieser Prozess ist nie abgeschlossen, da das Leben nicht statisch ist, sondern immer neue Herausforderungen mit sich bringt.

 

Erfolgreicher Studienabschluss dank kreativer Lernmethoden

Für den erfolgreichen Abschluss meines berufsbegleitenden Fernstudiums musste ich viel, viel Energie und Zeit investieren. Ich habe mich intensiv mit alternativen Lerntechniken auseinandergesetzt, da mein Arbeitsgedächtnis aufgrund der ADHS-Problematik mitunter beeinträchtigt ist. D. h. ich musste meine eigenen Wege finden, den immensen Lernstoff zu behalten. Das war viel Arbeit, mit Unterstreichungen, farblichen Markierung, Mindmaps, Karteikarten, Wiederholungen, Dinge in einen sinnhaften Kontext setzen …

Aber die Liebe zur Psychologie und Pädagogik hat mich immer wieder motiviert. Ich wollte schon immer verstehen, warum Menschen so wunderbar einzigartig sind. Und es hat sich gelohnt, weil ich auch gemerkt habe, wenn das Wissen erst einmal im Kopf verankert war, konnte ich eine der Stärken von ADHS, nämlich divergentes Denken, nutzen. Das ist bis heute meine liebste meistgeschätzte ADHS-Stärke, meine Fähigkeit des vernetzten Denkens. All die vielen Informationen im Kopf miteinander in Verbindung zu bringen und vernetzen.

Teilnehmerin eines ADHS-Gruppencoachings als wichtigste Station

Wenn man mich heute fragt, was für mich wichtige Stationen waren, dann ist es insbesondere mein Gruppencoaching, an dem ich teilgenommen habe. (Nach dem wissenschaftlichen Konzept der Universität Köln, Prof. Dr. Lauth, emeritiert). Acht ganz unterschiedliche Menschen, 2 Frauen, 6 Männer. Jeder auf seine Art begabt, beeinträchtigt, individuell und einzigartig: Wir haben gelacht, uns Mitgefühl geschenkt, sind miteinander gewachsen und haben miteinander viel über uns, die unterschiedlichen Ausprägungen von ADHS gelernt. Bis heute prägt mich diese Zeit und die Erfahrung nachhaltig – als Betroffene, und auch als ADHS-Coach.

ADHS-Gruppencoaching

Meine ADHS Spätdiagnose: Teilnehmerin eines ADHS-Gruppencoachings

Jetzt könnte man meinen, dass von da an alles klar war. Doch Lebenswege und die Anforderungen des Lebens sind immer dynamisch. Und ADHS zu meistern bedeutet auch, sich immer wieder verändernden Lebensbedingungen anzupassen. Schauen, ob die erlernten Bewältigungsstrategien und Copingstrategien noch passen, und wenn das (noch) nicht der Fall ist, tritt auch meine ADHS-Ausprägung wieder stärker in den Vordergrund. Und so ist das insbesondere auch bei den komplexen Rollenanforderungen von ADHS und dem Frau- und Muttersein.

Mein Lebensweg mit ADHS als Frau und Mutter

So zeigt sich ADHS immer wieder anders in meinem weiblichen Lebensweg, bis heute. Die Anforderungen ändern sich und damit treten die ADHS-Symptome unterschiedlich in Erscheinung. Aber was ich heute weiß und nachhaltig verstanden habe, ist, dass die Lebenswirklichkeit von Frauen durch die vielschichtigen Rollenanforderungen so komplex ist und für die durch ADHS beeinträchtigten Exekutivfunktionen so (über)fordernd und anstrengend.

Mental Load und ADHS

Mütter & Väter und ADHS: Mental Load

Schule, Berufsausbildung, Ehefrau, Mutterrolle, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, weibliche Identität und Wechseljahre. ADHS hat sich insbesondere in meiner Mutterrolle stark gezeigt, aber auch in unterschiedlichen Entwicklungsphasen meiner Kinder anders. Das oft mit Müttern in Verbindung gebrachte Mental Load kenne ich als Mutter zweier Kinder gut. Geistig erschöpft zu sein. Alle Fäden in der Hand zu haben und die Angst, doch welche zu übersehen.

Und dazu muss man wissen, dass ich einen wunderbar unterstützenden Mann habe, und trotzdem blieb immer viel an mir hängen, was mich und meine ADHS fordert.

 

ADHS, Masking und Scham

So hat auch mich lange Zeit Scham und Masking begleitet. Nur nicht auffallen! Dinge, die anderen Menschen scheinbar einfach von der Hand gehen, nicht immer bewältigen zu können. So bin ich oft auch über Grenzen gegangen und habe versucht, zu vertuschen oder mit viel, viel Anstrengung zu (über)kompensieren. Vielleicht ist das auch der Grund, dass ich jetzt mit fast 53 Jahren sage, dass auch ich ADHS habe und mehr als 20 Jahre meinen Weg gesucht und gefunden habe und ihn bei neuen Lebensanforderungen immer wieder verliere und neu suche.


Wachsende Lebensweisheit mit dem Alter: Meine Säulen, die mein Leben tragen

Wenn ich heute gefragt werde, was sind für mich die Säulen, die mich tragen bei einem erfüllten Leben mit ADHS, dann kann ich das gar nicht kurz beantworten. Es ist nicht die eine große Sache. Es sind viele kleine Bausteine, die immer wieder ineinandergreifen, wie ein System von Zahnrädchen.

Gestaltungsmöglichkeiten ADHS

Leben mit ADHS: zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten, die ineinandergreifen

Und dennoch gibt es wenige, aber wichtige Aspekte, die mich in besonderer Weise tragen in meinem Leben und wirklich wichtig sind für mein Wohlbefinden, für gelingende Tage und langfristig für ein gelingendes Leben. Dabei profitiere ich auch von der Entwicklung der ADHS-Forschung der letzten 25 Jahre, die mehr und mehr auch die Stärken beleuchten. So hat sich mein Bild über ADHS seit meiner Diagnose erweitert und verändert. So kann ich heute auch meine wertvollen ADHS-Stärken sehen, fühlen und ausleben. Dabei negiere ich die Schwächen nicht, aber ich sehe beides und beides gehört zu mir.  Wie die Klaviatur eines Klaviers, mit schwarzen und weißen Tasten.

Ich habe mittlerweile ADHS durchdrungen. Das klingt komisch, aber ich verbinde das Wissen über ADHS mit den weisen Erkenntnissen der Achtsamkeits-, Stress- und Burnout-Forschung mit einem kontinuierlichen Blick auf mich selbst. Ich weiß heute, dass Bewusstheit der Schlüssel für ein gelingendes Leben mit ADHS ist. Meine Selbstreflexionsfähigkeit ist meine wichtigste Ressource: je besser ich ADHS und mich selbst kenne, desto besser kann ich Einfluss auf mein Leben nehmen.

Und dennoch bleibt es eine Daueraufgabe, meine eigene Selbststeuerungsfähigkeit zu stärken. Immer wieder achtsam wahrzunehmen: Wo stehe ich gerade? Bin ich noch da, wo ich sein will?

Denn zu einem Leben mit ADHS gehören beide Pole. Selbstfürsorglich mit den belastenden Herausforderungen umgehen, gleichzeitig auch Verhaltens- und Denkstrategien entwickeln, die den wenig förderlichen Denkweisen und Verhaltensgewohnheiten Einhalt gebieten. So liegt die Lösung oft nicht im entweder, oder, sondern im sowohl, als auch … und noch in zahlreichen anderen möglichen Lösungen.

Grenzen von ADHS akzeptieren: Mit und nicht gegen ADHS arbeiten

Für mich gehört zu meinem Leben mit ADHS neben der kontinuierlichen Anpassung meiner Bewältigungsstrategien an sich verändernde Anforderungen auch, die Grenzen von ADHS zu akzeptieren. Die Einschränkungen in der Belastbarkeit, die ich durch die Reizfilterstörung erlebe. Schnell erschöpft zu sein, wenn ich vielen Reizen ausgesetzt bin, die ich allein nicht beeinflussen kann. Dass manche Tätigkeiten bleischwer für mich sind, die anderen federleicht von der Hand gehen, und einiges mehr.

Und ich weiß heute, dass mich neue unbekannte Situationen anstrengen, z. B., wenn mein Kopf durch zu viele neue Eindrücke (noch) überfordert ist. So sind Situationen der Einarbeitung für mich immer sehr anstrengend, wenn durch unzählige neuronale Verknüpfungen, die mein Kopf verarbeiten muss, Unsicherheit entsteht. Lachenmeier hat das „Nebelangst“ genannt. Besser könnte ich das nicht beschreiben. (Lachenmeier 2014). Dann habe ich bestmöglich Geduld mit mir und weiß, wenn ich eingearbeitet bin, kann ich meine Stärken nutzen: die Fähigkeit des vernetzten Denkens.

 

Achtsamkeit bei ADHS als Gamechanger

Ich habe erkannt, besser gesagt durchfühlt, dass ich durch meine Lebensführung, und auch durch Achtsamkeit erheblich dazu beitragen kann, wie sich ADHS zeigt. Ja, ADHS ist immer da. Aber nicht immer gleich groß. Manchmal ist es ganz klein und versteckt sich irgendwo und an anderen Tagen strauchele ich wieder, weil die Anforderung des Alltags nicht zu meiner ADHS-Ausprägung, meiner Aktivierung, meinen Kompetenzen und Coping-Strategien passen.

ADHS und Achtsamkeit

Manchmal denke ich, dass das fast die wichtigste Säule ist: meine Gedanken zu kontrollieren. Ich habe im Laufe meines Lebens gut gelernt, ADHS zu managen, bin neben dem Leistungssport meinen Weg erfolgreich gegangen. ABER: Das messe ich an meinen Maßstäben und an mir. Ich vergleiche mich nicht mehr, versuche Bewertungen bestmöglich zu vermeiden. Und da haben meine Gedanken und wie ich damit umgehe, solch eine bedeutsame Rolle. Es ist mein Leben, das ich in meinem Tempo, in einer für mich passenden Art führe. Ich entscheide, wofür ich mir Selbstwertschätzung gebe und führe mit meinem inneren Kritiker immer wieder harte Diskussionen. Darin bin ich mittlerweile durch meinen eigenen Dialog sehr geübt.

Ich versuche, mein Leben bestmöglich nach ADHS zu richten. Ein ruhiges Leben zu führen, mit wenig Reizen, viel Sport und viel Natur und wenigen, aber engen menschlichen Begegnungen und meiner geliebten Familie. Als introvertierter, bewegungsfreudiger und naturverbundener Mensch fällt mir das nicht schwer.

Aber insbesondere durchfühle ich ADHS und lasse auch die Traurigkeit zu, dass ich immer mal wieder an Grenzen stoße. Auch das ist ein wichtiger Baustein, mit ADHS zu leben.

 

Was ich an ADHS liebe? Vieles, aber insbesondere die Fähigkeit des divergenten Denkens

Ich werde oft gefragt, was ich an ADHS mag. So vieles, und am meisten die Art, wie ich denke. Ich liebe meinen ADHS-Kopf. Ich mag die ergebnisoffene Art, wie ich denke, wie ich Einzelheiten zu einem Großen und Ganzen bündeln kann. Oft wird ADHS mit Kreativität in Verbindung gebracht. Wenn man Kreativität mit künstlerischen Ideen gleichsetzt, ist das bei mir gar nicht der Fall – da bin ich sehr unbegabt. Aber für mich bedeutet Kreativität, wie ideenreich und fantasievoll man in der Lage ist, Herausforderungen zu meistern, mit Problemen umzugehen, Lösungsorientierung und Ergebnisoffenheit im Denken zu zeigen. Und das kann mein Kopf wunderbar. Damit stütze ich meine Familie und mich.

Stärke von ADHS

ADHS Stärke: vernetztes Denken

Das vernetzte Denken empfinde ich als großes Geschenk, gerade bei komplexen oder konzeptionellen Fragen. Aber auch in Coaching-Prozessen kommt mein Kopf mit Freude so richtig in Bewegung. Da bin ich im Hyperfokus und ganz im Hier und Jetzt. Dann fühle ich mich durch ADHS sehr unterstützt.

Und Menschen, die mich gut kennen, wissen, dass auch ich mit hartnäckigen ADHS-Themen kämpfe, dazu gehören z.B. Ordnung und Papierkram. Da ist noch deutlich Luft nach oben. Und mein Lebenstempo gleicht manchmal dem einer Schildkröte – auch das möchte ich nicht unerwähnt lassen. (Ja, die kleine quirlige Christiane ist heute eine eher bedächtige Frau. Symptomausprägungen verändern sich!)

Aber so ist Menschsein, für Menschen mit ADHS, und auch ohne.

Das Leben stellt uns immer wieder vor Herausforderungen, denen wir (noch) nicht gewachsen sind, da das Leben eben dynamisch ist und sich die Anforderungen immer mal wieder ändern. Dann gilt wieder für mich: Aufstehen, Krönchen richten, weiter geh’s. Das Leben zu leben, in seiner Einzigartigkeit. Das ist mein Leben und ich wäre nicht ich ohne meine ADHS mit der ganzen bunten Vielfalt an Begabungen und auch Defiziten. Und ich wäre auch nicht ich ohne die wunderbaren Wegbegleiter in meinem Leben, die mich stützen, stärken, ermutigen und auch mal begrenzen.

Mein Leben mit ADHS als ADHS-Coach: meine zweite Berufung

Und heute? Ja, das Leben hat mich dann doch ans Ziel gebracht, auch beruflich das Leben führen zu dürfen, das zu mir passt, was ich in meinem Herzen bin und was mir entspricht.

ADHS-Coach

ADHS-Coach: Christiane Altemöller

ADHS-Coach für Erwachsene, das ist für mich nach meiner lebendigen Zeit als erfolgreiche Siebenkämpferin meine zweite Berufung. Darin bündelt sich meine Liebe zur Psychologie und Pädagogik. Meine Neugierde, menschliche Individualität zu erkunden, meine Fähigkeit des divergenten Denkens und meine eigene Tiefgründigkeit & Empathie und die Liebe zur Potenzialentfaltung einer ehemaligen Leistungssportlerin. Ich habe mir in der Leichtathletik schon den Siebenkampf ausgesucht, weil ich Vielfalt mochte. Genau das liebe ich als ADHS-Coach. So öffne ich in Gedanken mit jedem Klienten ein Buch. In meinem Kopf machen sich Bilder, Assoziationen breit. Den Mythos, die sind doch alle gleich, erlebe ich genau gegenteilig. Mit jedem Klienten einzutauchen in die faszinierende Einzigartigkeit Menschsein mit ADHS. Dafür bin ich heute sehr dankbar, dass ich Betroffene und deren Familien begleiten darf bei der nachhaltigen Verbesserung der Lebensqualität.

 

Jetzt ist ein Anfang gemacht. Ich habe mein eigenes Buch des Lebens für Sie ein wenig geöffnet. Mich erstmals mit dem zu zeigen, was ich seit vielen Jahren in mir trage. Aber es sind meine Werte wie Authentizität und Ehrlichkeit, die mich dazu gebracht haben, diesen Schritt zu wagen. Das hat mich viel Mut gekostet, und meine eigene innere Entwicklung ist dem vorausgegangen. Zu mir zu stehen in meiner unperfekt perfekten Einzigartigkeit.

Ich hoffe, der Einblick in meinen Lebensweg macht auch Ihnen Mut, sich auf den Weg zu machen, das Leben mit ADHS proaktiv zu gestalten. Denn das Hinderlichste an ADHS ist der Gedanke: Ich habe ADHS, ich kann da nichts ändern.

Falls Sie neugierig sind: Schauen Sie sich doch gerne auf meiner Homepage um.

Wer schreibt diesen Blog?

Ich bin Christiane Altemöller, B.A., ADHS-Coach und Trainerin. Kopf und Herz hinter: Coaching| ADHS-ADULT im DIALOG. www.christianealtemoeller.de

Ich bin Online-Coach aus Überzeugung und arbeite im 1:1-Einzelcoaching, Paarcoaching und Gruppentraining mit Betroffenen.

Durch meine eigene ADHS-Diagnose mit 32 Jahren prägen mich mehr als 20 Jahre eigenes ADHS-Management.

Als Berufswahl- und Karriere-Coach unterstütze ich mit meiner breiten ADHS-Expertise, langjährigen Erfahrungen im Bereich Human Resources bei Fragen rund um das Thema Berufswahl und in Bezug auf berufliche Orientierung, Studienorganisation, berufliche Umbrüche, Karriereentscheidungen sowie Konflikte.

Mein interdisziplinärer Blick bezieht außerdem stets die Perspektive eines Stress- und Burn-out-Coaches mit ein.

Zudem ist es meine besondere Begabung, verdeckte oder verloren gegangene Talente und Ressourcen mit und in Menschen zu entdecken. Dabei lenke ich den Blick weg von der einseitig defizitorientierten Sichtweise von ADHS-Betroffenen.

Insbesondere ist es meine Vision, Menschen, die von ADHS betroffen sind, durch eine stimmige Berufswahl und -entscheidung zu stärken und außerdem mit meinem Angebot von Coaching | ADHS-ADULT im DIALOG zur gesellschaftlichen Entstigmatisierung von ADHS beizutragen.

Menschen auf tiefer Ebene zu begegnen und ganzheitlich zu begleiten. Lösungen zu erarbeiten, die nachhaltig und langfristig tragen. Dafür stehe ich.

Mich prägen meine eigenen Erfahrungen als Betroffene und mein eigener Lebensweg als ehemalige Leistungssportlerin. Ein Leben – mit intensiven Erfolgen und schmerzhaften Enttäuschungen, aber insbesondere mit einem dynamischen Growth-Mindset. So lautet mein Motto: Ich kann das NOCH nicht, aber ich kann das lernen.

Mit Zuversicht und einer Balance von Akzeptanz und Gestaltungskraft ein gelingendes Leben mit ADHS gestalten. Dafür stehe ich mit ADHS-ADULT im DIALOG.

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Literatur:
Lachenmeier (2014)